Exemplarisch: eine Geschichte und zwei Fluchtwege
Warum gefällt es dir so gut in Thedinghausen, Hafsa X. (Name geändert)? „Zum ersten Mal seit vielen Jahren kann ich wieder einigermaßen angstfrei leben. Ich darf mich frei bewegen, habe nicht mehr täglich die Angst, dass mir jemand nach dem Leben trachtet und ich habe tolle Menschen kennenlernt.“
Hafsa X., 24 Jahre alt, lebt mehr als sein halbes Leben in Angst. Sein Vater war politisch sehr engagiert, was die Familie in große Gefahr gebracht hat. Im Norden der Elfenbeinküste lebte er zusammen mit 4 Geschwistern und seinen Eltern. Auf der politisch falschen Seite zu stehen bedeutet dort, dass man verfolgt wird. Nächtliche Besuche von beispielsweise Rebellen gehörten zu seinem Leben. Die Familie wurde bedroht, es wurde Waffen an die Köpfe gehalten und geschrien „wir bringen euch um“. Todesängste und das nicht nur einmal sondern regelmäßig. Wenn man Glück hatte, konnte man sich mit Geld freikaufen, immer wissend, dass die gleiche Situation schon schnell wieder kommen kann.
2012 dann die erste Tragödie: sein Vater wurde vor seinen Augen im Haus der Familie erschossen. Zwischen 2012 und 2014 folgten dann weitere „nächtliche, lebensbedrohliche Begegnungen“, bis
im Oktober 2014 sein ältester Bruder erschossen wurde. Auch in dem Haus der Familie, vor den Augen aller. „Ich könnte der Nächste sein“, dieser Gedanke ging nun nicht mehr aus seinem Kopf,
so dass er im November 2014 seine Flucht antrat.
Durch verschiedene afrikanische Länder ist er dann im Februar wie so viele andere Flüchtlinge in Libyen auf ein Schlauchboot gestiegen. 2 Nächte und Tage ohne Essen und Trinken, bei hohem
Wellengang. Zuletzt ist auch Wasser in das Boot eingedrungen. Er hatte „Glück“, das Boot wurde von der italienischen Polizei entdeckt und die Flüchtlinge gerettet. Viel mehr mag er zu dem Thema nicht sagen, noch zu groß sind die schrecklichen Gedanken daran.
Es folgten 7 Monate in einem Flüchtlingslager in Italien. Eingepfercht in Zelte, wurde dieses Lager umzäunt und man durfte dort nicht hinaus. Von den Italiener bekam man eine Jacke, das war dann die komplette er Kleidung, zusammen mit dem, was man am Körper trug. Hafsa X. ist im Februar in Italien angekommen und wurde in den Norden gebracht. Kalte Nächte, in denen man sich in den Zelten vor der Kälte nur mit seiner Jacke und einen dünnen Lacken, was er als Zudecke bekommen hat, schützen konnte. Im Sommer dann die Hitze: auch schwierig wenn man in einem Zelt lebt. Der Hunger war zusätzlich ein ständiger Begleiter: Frühstück gab es nicht. Nur ein Mittagessen plus ein Abendessen. Immer Spagetti mit einer Tomatensoße. Und das mittags und abends. Monatelang das gleiche Essen. Wurde jemand in dem Lager krank, passierte nichts. Niemand hat sich wirklich für die Flüchtlinge interessiert, es galt sie nur zu bewachen, damit sie das Lager nicht verlassen.
Nach 7 Monaten in diesen menschenunwürdigen Verhältnissen hat er dann eine Gelegenheit zur Flucht genutzt und ist nach Deutschland gekommen. Anfang Oktober ist er dann in Thedinghausen gelandet. Für ihn der Beginn eines normalen Lebens. Menschen, die sich für ihn interessieren und sich kümmern. Wie eine Familie. Hafsa X. fängt langsam an wieder Vertrauen zu fassen und beginnt ganz vorsichtig das Leben zu genießen. Er hat so liebenswerte Menschen kennengelernt. Da sind Klaus und Michael, die sich um alle Bewohner in seinem Haus kümmern. Sie kommen regelmäßig vorbei, schauen nach dem Rechten und sind für die Bewohner Ansprechpartner bei Alltagsproblemen. Und Astrid: die kommt immer mal wieder zu Besuch und spielt mit den Bewohnern, einfach nur um für etwas Abwechslung zu sorgen. Oder Petra, die wöchentlich Deutsch mit ihnen lernt.
Und dann ist da noch meine Familie. Für Hafsa X. so etwas wie seine Familie in Deutschland. „Kelly“, mein Mann, spielt 2x wöchentlich mit allen Fußball und ich bin so etwas wie die Vertraute von Hafsa X.. Er kommt uns regelmäßig besuchen und wir sprechen viel über seine Vergangenheit. Nicht immer einfach, weil meine französisch Kenntnisse begrenzt sind und es Hafsa X. natürlich schwer fällt über diese schrecklichen Ereignisse zu sprechen. Aber natürlich versuchen wir hauptsächlich Hafsa X. das Leben in Deutschland zu erklären und mit ihm zu „erleben“. Wir haben gemeinsam Bremen besucht, waren auf dem Flohmarkt oder spielen zusammen. Hafsa X. scheint zunehmend glücklicher und in Deutschland „anzukommen“. Er möchte so schnell wie möglich Deutsch lernen und hier Fuß fassen. Und nein, er möchte nicht von dem Geld der Regierung leben, sondern sein eigenes verdienen. Und wir begleiten ihn auf diesem Weg.
Und trotzdem ist sein ständiger Begleiter die Angst. Angst, wieder nach Italien zurück zu müssen. Zurück in ein Land, in dem er malträtiert wurde, die Lebensbedingungen für Flüchtlinge unakzeptabel sind und es keine Perspektive für ihn gibt. „Dublin Verfahren“ ist das große Angstwort.
Diesen Dienstag kam dann die schreckliche Post: es wurde entschieden, dass er nach Italien zurück muss, um dort Asyl zu beantragen. Erneute Angst und dieses Mal nicht nur bei ihm, sondern auch bei uns und anderen Unterstützern der Initiative „Ankommen in Deutschland“. Kann es denn wirklich sein, dass die deutsche Regierung Hafsa X., bei dem die Integration so hervorragend funktioniert, in diese menschenunwürdigen Verhältnisse zurück muss? Hafsa X. hat hier Freunde gefunden und eine Familie, die ihn an seiner Seite steht.
Gestern haben wir nun anwaltliche Unterstützung gesucht. Und wieder ist Hafsa X. nicht allein: Neben mir begleitet ihn ganz spontan Florian, der hervorragend französisch spricht und beim Anwalt übersetzt. Und auch ich erfahre bei diesem Termin weitere Einzelheiten, die in unseren Gesprächen wegen meiner eingeschränkten französischen Kenntnisse oft „untergegangen“ sind. Auf die Frage der Anwältin, was eine Rückkehr nach Italien für ihn bedeutet würde, antwortet er: „Lieber würde ich sterben, als nach Italien zurück zu müssen. Ich habe hier in Thedinghausen eine Familie gefunden, eine Mama und einen Papa. Mein Kopf ist voller schrecklicher Erinnerungen und Kelly und Dani helfen mir, diese zu vergessen.“
Da sitzt also ein Mann von der Elfenbeinküste neben mir, samt all seiner Hoffnungen und legt quasi sein Leben in unsere Hände. Und ja, wir sind bereit für ihn und sein Leben in Deutschland zu kämpfen. Es kann doch nicht sein, dass unser großartiges Land Deutschland dabei zusieht, wie ein bereits integrierter, stark traumatisierter Mensch wieder seinem Schicksal überlassen wird.
Die Klage gegen die Abschiebung ist eingeleitet und nun bleibt es nur noch zu hoffen…
Daniela Gudegast
Familie aus dem Sudan (rot)
9 Kinder von 10 Monaten bis 16 Jahren
Familie aus Afghanistan (blau)
4 Kinder von 2 bis 8 Jahren